Else und das Efeu-Haus
Es war ein trüber Donnerstagnachmittag im November, als große Baufahrzeuge angerollt kamen und begannen das Efeu-Haus abzureißen. Das sie kommen würden, war schon lange klar, aber dass es ausgerechnet an diesem Tag passieren würde, wusste ich nicht.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich damals mit sieben Jahren mit meinem Miniroller vor der Gartentür, umwoben mit Efeuranken gestürzt war und mir das Knie aufgeschürft hatte. Ich blickte um mich herum, auf der Suche nach Hilfe, doch außer dem alten zugewachsenen Haus am Ende der Grünwaldallee war kein anderes Haus in Sicht. Genau erinnere ich mich nicht mehr wie lange ich dort saß, kauernd auf dem Boden mit Schrammen am Knie und noch viel schlimmer, die Kratzer an meinem nagelneuen Miniroller, den ich erst wenige Tage vorher zu meinem Geburtstag bekommen hatte.
Doch wenn ich an das denke, was als Nächstes passierte, kribbelt es immer noch in meinem ganzen Körper, genau wie in dem Moment, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legte. Als ich mich umsah blickte mir eine alte, freundlich lächelnde Frau entgegen. Sie war aus dem zugewachsenen Garten durch die von Efeu berankte Gartentür zu mir gekommen. In ihrer Hand hielt sie ein Taschentuch und ein Bonbon.
Klar war ich erstmal überrascht und auch irgendwie skeptisch, aber mit sieben ist man dann doch noch so naiv genug, dass Leute mit Bonbons welche von den Guten sind. Und Gott sei Dank war es auch so. Von jenem Tag an besuchte ich Else, so hieß sie, so oft es nur ging. Meine Eltern erzählten mir damals, man würde über sie munkeln, dass sie eine Hexe wäre, die hinter dem Efeu um ihr Haus geheime Tränke brauen würde, also verbaten sie mir dort hinzugehen, weshalb ich das Ganze heimlich machte.
Sie wohnte alleine dort und außer Tee braute sie zumindest in meiner Gegenwart rein gar nichts. Sie war wie eine Oma für mich, meine echten Großeltern waren schon vor meiner Geburt verstorben. Else und ich machten alles, was man mit Omas eben macht; Kuchen backen, Blumen pflücken, Unkraut jäten, Süßes essen bis man nicht mehr kann und bei schlechtem Wetter drinnen in der Altbau Küche am Fenster sitzen und dem Regen, der draußen ans Fenster prasselt lauschen und dabei Mensch-Ärger-Dich-Nicht spielen.
So ging das ziemlich genau acht Jahre. Naja fast. So lang bis Elisabeth, ihr echter Name, fünf Tage vor meinem 15 Geburtstag an einem Herzinfarkt starb. Da sie keine Freunde, Verwandte oder Bekannte außer mir hatte, war es auch ich, die sie auf dem Sofa liegend auffand. Schön war das nicht aber ich war froh, dass sie ein Lächeln im Gesicht trug, selbst jetzt, genau wie bei unserer ersten Begegnung. Sie sah irgendwie zufrieden aus und ich glaube sie hatte es schon irgendwie geahnt, denn auf dem Tisch in der Küche standen Dosen voll mit Erdbeer-Bananen Keksen, die wir immer zusammen gebacken hatten. Als ich da so stand, mit den Tränen in den Augen, wusste ich doch, dass sie in Frieden Abschied genommen hatte.
Noch am selben Tag wurde das Haus geräumt und nun 2 Monate später wollten sie es dem Erdboden gleich machen. Ich konnte nichts dagegen tun und bis heute habe ich mit niemandem darüber geredet, meine Eltern hatten bestimmt gewusst oder irgendwann herausgefunden, dass ich sie besucht hatte, jedoch hatten sie mich nie darauf angesprochen und jetzt war es sowieso zu spät.
In dem Moment war ich also mit meinem Schmerz alleine. Denn mit Elses Efeu-Haus verschwand auch ein Stück meiner geliebten Kindheit und mir wurde klar, dass es nie mehr so werden würde wie früher. Nie mehr würden wir zusammen im Garten Tee trinken, Heimatfilme schauen oder Kekse backen. Es war an der Zeit mit von meiner Kindheit zu verabschieden und der Zukunft ins Auge zu blicken. Vergessen hatte ich Else und ihr geheimnisvolles Haus jedoch nie. Und auch, wenn ich kein Grab hatte, an dem ich sie besuchen konnte, wusste ich doch, dass sie in meinem Herzen immer für mich da war, wenn ich sie brauche.
Heute bin ich 17 Jahre alt. An dem Ort, an dem das Haus gestanden hatte, sind heute große moderne Mehrfamilienhäuser, aber wenn ich auf dem Gehweg davor stehe und die Augen schließe, fühlte es sich fast so an als wäre das Efeu-Haus noch immer da.
Autorin: Lorena Valerio